Deutsche Soldaten in japanischer Kriegsgefangenschaft, 1914-1920

Dr. Takuma Melber (Universität Heidelberg)

Zu einem im Allgemeinen vergleichsweise wenig bekannten Themenkomplex der Geschichte der deutsch-japanischen Beziehungen gehört die Episode deutscher Soldaten in japanischer Kriegsgefangenschaft, 1914-1920. Bereits wenige Tage nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs belagerten ab Mitte September 1914 britische, vor allem aber japanische Truppen Tsingtau, die Hauptstadt des seit 1898 für 99 Jahre vom Kaiserreich China gepachteten deutschen Schutzgebiets Kiautschou. Nach eineinhalbmonatiger Belagerung wanderten über 4500 Verteidiger der Stadt – zum überwiegenden Teil deutsche Soldaten, aber auch Kombattanten der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn – in japanische Kriegsgefangenschaft. Zu den Verteidigern Tsingtaus zählten dabei Berufssoldaten, Kriegseinberufene und Wehrpflichtige sowie auch deutsche Kriegsfreiwillige, die sich mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs aus anderen Teilen Asiens in Tsingtau eingefunden hatten, um unter dem Kommando von Gouverneur Alfred Meyer-Waldeck die Stadt zu verteidigen. Allerdings mussten am 7. November 1914 die Soldaten Tsingtaus nach erbitterter Gegenwehr aufgrund von Nachschubproblemen ausgezehrt ihre Waffen strecken.

Das Japanische Kaiserreich war auf eine so schnelle Kapitulation Tsingtaus und die große Zahl an Kriegsgefangenen nur unzureichend vorbereitet. In improvisierter Art und Weise wurden die deutschen Soldaten nach dem Fall Tsingtaus auf Frachtschiffen und unter äußerst widrigen Bedingungen aus China gen Japan abtransportiert. Hier wurden sie zunächst in eilig eingerichteten und räumlich beengten Lagern untergebracht: Öffentliche Gebäude, Kasernengelände oder Tempelanlagen dienten als provisorische Kriegsgefangenenunterkünfte der ersten Stunde. Beispielsweise waren zu Beginn ihrer Gefangenschaft über 300 Soldaten für die ersten Monate auf dem Tempelgelände des Hongan-ji in Asakusa (Tokyo) untergebracht, darunter der Kommandeur des Ostasiatischen Marine-Detachements Oberstleutnant Paul Kuhlo.

Auf drei der vier Hauptinseln Japans gab es ein gutes Dutzend an Kriegsgefangenenlagern an den Standorten Asakusa (Tokyo), Himeji, Nagoya, Osaka und Shizuoka auf der Insel Honshu, Tokushima, Marugame und Matsuyama auf Shikoku sowie Fukuoka, Koradai, Kumamoto, Kurume und Oita auf Kyushu. Im Laufe des Weltkriegs kam es zu Umstrukturierungen, Schließungen und Neuöffnungen von Lagern sowie den damit einhergehenden Verlegungen der Lagerinsassen. Auf Honshu wurden im September 1915 das nahe Tokyo gelegene Lager Narashino, primär für österreichisch-ungarische Soldaten das Kriegsgefangenenlager Aonogahara sowie im Februar 1917 das Lager Ninoshima vor den Toren Hiroshimas eröffnet. Das wohl bekannteste Lager stellt aber das im April 1917 auf der Insel Shikoku eingerichtete Lager Bando (heutiges Naruto) dar, das aufgrund der vorbildlichen Bedingungen als „Musterlager“ anzusehen ist. Allein schon aufgrund seiner Größe – das Lager Bando zählte über 950 Insassen – vor allem aber wegen der sehr guten Lagerbedingungen ist es die Geschichte Bandos, welche das Gesamtnarrativ deutscher Soldaten in japanischer Kriegsgefangenschaft während des Ersten Weltkriegs nachhaltig bestimmt.

Insbesondere dank der liberalen Haltung des Lagerkommandanten Oberst Matsue Tomohisa, unter dessen Aufsicht bereits zuvor das Lager Tokushima gestanden hatte, wurde den deutschen Kriegsgefangenen in Bando ein sehr humaner Umgang zu Teil. Aber auch an anderen Lagerstandorten genossen die deutschen Kriegsgefangenen viele Freiheiten und eine gute Behandlung –insbesondere verglichen mit der Behandlung beziehungsweise Misshandlung
alliierter Prisoners of War während des Zweiten Weltkriegs in Japan, aber auch im Vergleich zur Behandlung ihrer deutschen Kameraden, die auf den europäischen Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs in Gefangenschaft geraten waren. Im Allgemeinen waren die japanischen Lager relativ geräumig ingerichtet mit gesonderten Baracken für Mannschaften und Offiziere sowie Lauben. Die Kriegsgefangenen konnten sportlichen Aktivitäten auf Sport- und Tennisplätzen nachgehen.

Viele Dokumente legen Zeugnis davon ab, dass schon vor mehr als 100 Jahren vor den diesjährigen Tokyoter Olympischen Spielen junge deutsche Männer sich in Japan in sportlichen Wettkämpfen maßen: Zu den Disziplinen gehörten unter anderem Wettläufe, Ringen, Turnen, Seilziehen, Tennis, Feldhockey und – bei Deutschen wenig überraschend – der Volkssport Fußball. Es gab auch eigene Lagerküchen, Schlachtbänke, Bäckereien und Waschhäuser, die für die Gewährleistung der Lagerselbstverwaltung von essentieller Bedeutung waren. Die Soldaten durften Gemüse anpflanzen und Tiere halten, insbesondere Nutztiere wie etwa Hühner, Kühe oder Schweine, deren Produkte zur Deckung des täglichen Bedarfs notwendig waren. Die Lagerinsassen verfügten auch über Alkoholika wie Bier, Wein oder gar Spirituosen, was aber aufgrund übermäßigen Alkoholkonsums mitunter zu Problemen führte.

Im Laufe der Zeit wurde es den Soldaten gestattet, die Lager unter japanischer Aufsicht für Spaziergänge und Ausflüge in der unmittelbaren Umgebung zu verlassen. Zudem organisierten sich in den Lagern neben Sportvereinen auch Orchester, Chöre oder Theatergruppen. Druckerzeugnisse wie etwa Lagerzeitungen wurden in Lagerdruckereien hergestellt. Die Lagerinsassen unterrichteten sich gegenseitig je nach beruflicher Provenienz in allerlei Sprachen, in Fächern wie etwa Chemie oder Physik, oder es konnten Kurse über ostasiatische Kultur und Sprache belegt werden. Ferner wurden Festivitäten in den Lagern begangen, so etwa der Kaisergeburtstag oder das Weihnachtsfest. Zudem kam es zu einem mitunter regen Austausch deutscher Gefangener mit der einheimischen Zivilbevölkerung – etwa indem deutsche Soldaten in japanischen Geschäften arbeiteten, um sich etwas hinzu zu verdienen und zugleich die Japaner in der Herstellung deutscher Produkte, beispielsweise deutscher Back- oder Wurstwaren oder Braukunst, zu unterrichten.

Bis heute hat sich in Narashino die „Narashino Sausage“, eine nach deutscher Art hergestellte Wurst, als regionaler Gaumenschmaus erhalten. Einheimischen wurden in der Endphase des Krieges die Lagertore geöffnet, um ihnen den Besuch der von den Inhaftierten konzipierten Ausstellungen zu ermöglichen, bei denen deutsche Produkte, Kunst und deutsches Handwerk vorgeführt wurden. Deutsche und Japaner gingen zudem gemeinsam sportlichen Aktivitäten nach, spielten beispielsweise gegen- und miteinander Fußball. Des übergeordneten Kriegskontextes zum Trotz entstanden so an manchen Lagerstandorten echte deutsch-japanische Freundschaften.

Auch wenn das oben skizzierte Bild nahezu idyllisch anmuten mag, ist zu betonen, dass sich die deutschen Soldaten in Kriegsgefangenschaft befanden: Sie waren unfreiwillig in Japan und wünschten sich nichts sehnlicher als ihre Freiheit. Sie wollten die Lager so schnell als möglich verlassen, um ihre Verwandten und Freunde in der Heimat wieder in die Arme schließen zu können. Den Kontakt zu diesen konnten sie lediglich über Feldpost aufrechterhalten, die der Zensur unterlag. Egodokumente berichten von Konflikten unter den Lagerinsassen, aber auch zwischen deutschen Soldaten und japanischen Wachmannschaften. An manchen Orten unternahmen deutsche Kombattanten Fluchtversuche, auf welche die japanische Seite mit Strafmaßnahmen reagierte. Auch von Verhaltensauffälligkeiten mancher Gefangener wird berichtet, deren psychische Gesundheit durch die Gefangenschaft stark belastet wurde. Zudem grassierte gegen Ende des Ersten Weltkriegs eine globale Pandemie, die nicht vor den Toren der Kriegsgefangenenlager Halt machte: Die Spanische Grippe sorgte sowohl unter den deutschen Soldaten als auch unter den japanischen Militärangehörigen für schwer Erkrankte und Todesopfer.

Mit dem Kriegsende im November 1918 war allerdings nicht unmittelbar das Ende der Gefangenschaft deutscher Soldaten in Japan verbunden. Erst im Frühjahr 1920 wurde die überwiegende Mehrheit der deutschen Kriegsgefangenen repatriiert – wobei einige Hundert Soldaten es tatsächlich vorzogen in Asien (China, Japan, Niederländisch-Indien) zu bleiben. Die aus Fernost nach Deutschland Zurückgekehrten sahen sich mit schockierendem Elend vor Ort konfrontiert und blickten einer ungewissen Zukunft entgegen. Viele von ihnen hatten sehr stark mit dem Prozess ihrer persönlichen Resozialisierung zu kämpfen.

Insbesondere dem 1972 eröffneten Deutschen Haus in Naruto – der Ort, an dem noch heute Überreste des Lagers Bando erhalten sind – seiner Sammelausstellung, Dokumentationen, Sonderaktionen sowie dem Engagement seiner Mitarbeiter*innen ist es zu verdanken, dass die Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen als kulturelles Erbe deutsch-japanischer Beziehungen und Freundschaft bis heute bewahrt geblieben ist.

In jüngerer Vergangenheit haben sich auch andere ehemalige Lagerstandorte, beispielsweise Kurume und Narashino, in Projekten verstärkt der Geschichte und historischen Aufarbeitung ihrer Lagergeschichten angenommen. In Deutschland startete vor einigen Monaten am Heidelberg Centre for Transcultural Studies (HCTS) der Universität Heidelberg das Projekt „Digitales Tsingtauarchiv – deutsche Soldaten in japanischer Kriegsgefangenschaft während des Ersten Weltkriegs“. Nachfahren ehemaliger deutscher Kriegsgefangener können hier weiterhin private Nachlässe zur Digitalisierung temporär/leihweise abgeben, um so weitere Zeugnisse der Episode deutscher Kriegsgefangenschaft in Japan, 1914-1920 für die Nachwelt in digitaler Form zu erhalten.

Treten Sie gerne bei Interesse oder mit Hinweisen mit dem Projektleiter, dem deutsch-japanischen Historiker Dr. Takuma Melber, in Kontakt:
takuma.melber@hcts.uni-heidelberg.de